Wir Nachbarschaftstouristen: Blick auf die Gegenwart, zurück und in die Zukunft beim Jubiläum der IG Potsdamer Straße

Dorfkirche "Zwölf Apostel"

Jetzt wissen wir es: Die Potsdamer Straße ist nicht nur Asphalt mit ein paar hübschen, ein paar hässlichen und vielen bunt bemalten Fassaden drum herum, hinter denen Deutsche - die neben Türken, die neben Äthiopiern, die neben Vietnamesen wohnen - leben, lieben und arbeiten. Viel mehr ist es. Ein Dorf.  Eines mit Kirchen (Zwölf-Apostel-Kirche, American Church, Syrisch-Orthodoxe Kirche), mit Grundschulen (Allegro und Collège Voltaire),  mit zwei Industriegebieten (Gewerbehof Bülowbogen, Maggi Höfe) und einem kleinen, aber feinen Tanzpalast (Wintergarten Varieté). Und dann, last but not least, einer Art Gemeinderat: die Interessengemeinschaft Potsdamer Straße. Seit  einem Vierteljahrhundert packt er bei seinen Sitzungen das Arbeitsmotto auf den Tisch: Unser Dorf soll schöner werden.

Mitmachen dürfen und sollen dabei nicht nur die Mitglieder, sondern möglichst alle. Das wünscht sich diese Gemeinschaft. Und weil schon viel passiert ist rund um die Potsdamer Straße, und sich eine Menge Anwohner und Gewerbetreibende engagiert haben, durfte vergangene Woche gefeiert werden. Einen konkreten Anlass gab es auch dafür: 25 Jahre IG Potsdamer Straße. Es wurde einen halben Tag und einen langen Abend lang erst hinter verschlossene Türen in die Gegenwart, dann in der Galerie Listros mit Dias und Vortrag zurück in die Vergangenheit und zu guterletzt mit etwas Phantasie in die Zukunft geblickt.

Gemütlich in die Rikscha gekuschelt - und los!

Los ging die Feier am Nachmittag des 11. November 2011 mit der Gegenwart. Und die gibt es nicht ohne Autos. 13 Neugierige stehen mit Mütze, Schal und Handschuhen ausgerüstet an der Potsdamer Straße /Ecke Pohlstraße, lassen die nachmittäglichen Blechkolonnen an sich vorbeirollen und wollen wissen, was im eigenen Dorf so passiert. Ein bisschen beim Nachbarn hinter den Gartenzaun spicken und schauen, was er so treibt. Aber halt, nicht  irgendwelche Nachbarn. Sondern die, die das Leben im Dorf besonders prägen: Grundschule, Industriegebiet und Tanzpalast standen auf dem Programm und dann - um auch zu sehen, wo die  Fremden absteigen, wenn sie in die Gegend einfallen – soll auch ein Hotel inspiziert werden. Unsere Neugier gewinnt gegen die erste eisige Kälte des Jahres: Was passiert hier tagtäglich in unserem Viertel?

Regine Wosnitza stellt uns zur Einführung die Reiseroute vor. Hinter ihrem Rücken hetzen Dutzende von Nachmittag-Autos vorbei und nehmen die meisten ihrer Worte gleich mit. Bis jetzt ist noch nichts zu berichten, was nicht schon jeder weiß: Das Gebiet um die Potsdamer Straße ist ein lärmendes Dorf. Also los zum ersten Programmpunkt: Die im Spätsommer eröffnete französische Grundschule, das Collège Voltaire.

Collège Voltaire
Direktor Patrice Thiney

In Fahrrad-Rikschas schunkeln wir Dorfinspizienten in die Kurfürstenstraße. Rektor Patrice Thiney begrüßt uns in der neu gestalteten Eingangshalle der Schule und steht plötzlich seiner Vorgängerin gegenüber. Bianca Flemig, die ehemalige Rektorin der Grips-Grundschule gehört zu unserer Gruppe. Die Grundschule hatte im Sommer 2010 schließen müssen und wurde mit der Fritzlar-Homberg-Grundschule zusammengelegt. Herausgekommen ist die neue Allegro-Grundschule, wo auch Bianca Flemig ihren neuen Arbeitsplatz gefunden hat. Als Rektorin.

Aber erfolgreicher Schreibtischwechsel hin oder her, mit etwas Wehmut stieg sie die Stufen des neuen Collège Voltaire hoch und runter, schließlich habe sich hier, wie sie feststellen musste, viel verändert. Wände neu gestrichen, neue Wände eingezogen, Räume umfunktioniert und vor allem: Andere Kinder. Gut 200 Grundschüler gehen momentan ins Collège Voltaire, das aus Reinickendorf in Berlins Mitte zog. Und auch wenn die Schule dem französischen Staat gehört, lernen dort bei weitem nicht nur französische Kinder. Nur ein Viertel, sagt Rektor Thiney. Alle anderen haben deutsche Eltern oder kommen aus anderen Ländern wie Tunesien, Kanada, Italien. Das Collège Voltaire gibt sich so international wie die Potsdamer Straße selbst.

Pfannkuchen am 11.11.11. im B&B Hotel - ganz hinten: GF Alexander Mies

International geht es auch im B&B Hotel zu, das vor zwei Jahren ein paar Meter neben dem Wintergarten Varieté in der Potsdamer Straße eröffnete. Schließlich trifft sich hier die Welt: Touristen, Professoren, Handwerker, Studenten, Geschäftsleute. „Wir haben hier sehr verschiedene Gäste“, sagt Alexander Mies, der Geschäftsführer des Zwei-Sterne-Hotels, während er uns einige der 90 Zimmer zeigt, die uns in allerbeste Laune versetzten.  Schlicht, aber gemütlich, mit bunten Ampelmännchen-Tapeten als Wanddekoration. Berliner Style gibt es auch an der Potsdamer Straße. Ungewöhnlich. Die Potsdamer Straße als Teil der hippen Hauptstadt – kaum ein Reiseführer schwärmt doch von Dreck, Autolärm, Prostitution und Casino-Schwemme.

Gewerbehof Bülowbogen

Er schwärmt auch nicht von unserem nächsten Programmpunkt,  wir Ein-Tages-Touristen umso mehr. Wir entdecken den Gewerbehof Bülowbogen. Hier ackern Menschen aus den verschiedensten Metiers. Schreiner, Architekten, Schmiede, Journalisten, Fotografen und: ein Wanddekorateur. Kurz bevor der Chef sich in den Feierabend verabschieden will, stürmen wir unangekündigt sein Atelier und bekommen erzählt, dass von dort aus die Wände bei den vergangenen zwei Oscar-Verleihungen dekoriert wurden. Ulrich Welter beklebt seit über 25 Jahren Stoffe mit Goldflitter oder Glasperlen und denkt sich allerlei andere extravagante  Tapeten aus. Vom Bülowbogen direkt nach Hollywood. Dieser Mann hat es geschafft. Wir dürfen ein paar Probe-Stoffe betatschen und haben es auch ein wenig geschafft. Von der Potsdamer Straße direkt zum glamourösen Bülowbogen!

Gewerbehof Bülowbogen

Und noch mehr Glamour. Zurück zur Potsdamer Straße. Unsere Rikschas halten an einem roten Teppich.  Georg Strecker, der Geschäftsführer des Wintergarten-Varietés lässt uns hinter die Kulissen des Vergnügungstempels spicken und erzählt uns dessen Geschichte, schließlich gibt es das Varieté – mit Unterbrechungen – seit 1880. War es damals in der Friedrichstraße eines der größten Show-Häuser seiner Zeit, laufen seine Vorstellungen erst seit 1992 an der Potsdamer Straße, wo bis dato das Quartier Latin drin war. Wir sehen Artisten beim Aufwärmen zu und in die engen Katakomben hinein, in denen sich die Künstler für die Show schminken. Glamour gibt es hier nur für die Zuschauer, stellen wir fest und lassen uns die nächsten verführerischen Showtitel aufzählen.

Über 25 Jahre lässt sich einiges erzählen

Wenig später stehen wir wieder draußen an der Potsdamer Straße. Feierabendverkehr. Die Blechkolonnen rollen jetzt nicht mehr vorbei, sie schieben sich langsam – ganz langsam vorwärts. Wir achten kaum darauf. Denn wir kennen jetzt auch die schönen Seiten der Potsdamer Straße.

Und damit sind wir bereit, die Gegenwart zu verlassen und reisen zurück in die jüngere Vergangenheit. Die Fahrt wird nicht lange dauern, wir machen nur in den Jahren seit 1986 Halt. Doch waren die vergangenen Jahre an der Potsdamer Straße ereignisreich genug, dass Regine Wosnitza eine Menge zu erzählen hat, und zwar am Abend in der Kurfürstenstraße in der Galerie LISTROS, wo sich zu uns Nachbarschafts-Touristen weitere Freunde der Potsdamer Straße einfinden.

Dank an den langjährigen Vorsitzenden
Einfach nur lecker!
Das "wahre Leben" im Improtheater

Wir recken die gefüllten Sektgläser in die Höhe: die IG Potsdamer Straße feiert ihr 25-jähriges Jubiläum und vieles von dem, was seit 1986 hier passiert ist, geht auf die Initiative des Vereins zurück, oder wurde zumindest von ihm begleitet. Da waren 1987 die Zusage der Polizei und des Bezirksamtes, die Aktivitäten rund um das Sex-Kaufhaus Ecke Bülowstraße zu observieren, da war der Bärenrummel von April bis Mail 2001 und kurz danach der Bücherbasar unterm Bülowbogen, die Christbaumparade im Jahr 2005 und die mehrjährige Kunstaktion „Magistrale“. Da waren aber auch steigende Mieten und schlechte Geschäfte an der Potsdamer Straße, wie die Berliner Zeitung im Jahr 2000 titelte. Zumindest was die steigenden Mieten angeht, lässt sich aktuell feststellen: Geschichte wiederholt sich.
Bei uns hingegen heißt es: Jeder holt sich einen Teller, Messer und Gabel. Und dann ab ans reichhaltige Büffet. Mehrere Restaurants der Umgebung haben Köstlichkeiten für den Abend gespendet und so kommt der seltene Anblick von schwäbischem Kartoffelsalat neben nigerianischen Kochbananen zustande.

Wir genießen die Geschmäcker der Welt, schlendern an Gemälden vorbei und haben uns noch immer nicht genug über die Potsdamer Straße ausgetauscht, während sich im Nebenraum die drei Improvisationsschauspieler der Theatergruppe Santa Catalina für ihre Comedy-Show vorbereiten. Denn wir bekommen gleich zu sehen, wie das „wahre Leben“ hier so spielt, wie die gewitzten Prostituierten an ihr großes Geld kommen, wie die Galeriebesitzer von russischen Mafiosi um ihren Kunstverstand gebracht werden oder wie die einfachen Arbeiter in der Kälte stundenlang auf einen Bus warten müssen, der nur nach eigener Zeitrechnung fährt. Alltagsprobleme zwischen Potsdamer Brücke und Kleistpark!

Ganz locker in die Zukunft

Und da in diesen entlarvenden Minuten klar wird, dass es an der Potsdamer Straße noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt, schauen die drei Schauspieler für uns noch in die gläserne Kugel. Was sie gesehen haben, verraten wir an dieser Stelle nicht, das werden wir hier alle gemeinsam erfahren. Wir sind uns sicher: In 25 Jahren wird wieder gefeiert. Und dann wollen wir Nachbarschaftstouristen wieder viel Neues zu entdecken haben.

Die Jubiläumsveranstaltung wurde über das Quartiersmanagement Magdeburger Platz - Tiergarten Süd mit Mitteln aus dem Programm Soziale Stadt unterstützt.

text: Wiebke Schönherr; fotos: Christine Haas